Autismus

Was ist Autismus?

(ein aus dem Englischen ins Deutsche übersetzter Gastbeitrag von Nick Walker aus seinem Blog Neuroqueer)

Über den Autor

Dieser Text, im Original in Englisch verfasst von Nick Walker, stellt eine Einführung in das Thema Autismus dar. Dieses Konzept, basierend auf dem Prinzip der Neurodiversität, ist nicht nur eine unbegründete Meinung. Nick Walker ist Autismuswissenschaftler, Professor für Psychologie am California Institute of Integral Studies, Gründer und Herausgeber von Autonomous Press, einem unabhängigen Verlag, der sich mit „Behinderung und Neurodiversität, Wege der Identität und Lebenserfahrung“, auseinandersetzt. Darüber hinaus ist Nick Walker autistisch. Dieser Text wurde ursprünglich in englischer Sprache auf Nick Walker‘s Blog, „Neuroqueer“ veröffentlicht und ist durch den White Unicorn e.V. hierher in eine deutsche Übersetzung übertragen worden.

Wie viele Websites mit dem Namen „Was ist Autismus?“ gibt es? oder „Über Autismus“? Wie oft brauchen Organisationen, Fachkräfte, Akademiker und andere einen grundlegenden Einführungstext über „Was ist Autismus“? auf einer Website, einer Broschüre, einer Präsentation oder einer wissenschaftlichen Veröffentlichung?

Ich habe sehr viele Versionen dieses obligatorischen „Was ist Autismus?“ oder „Über Autismus“ Textes gelesen. Und sie sind fast alle schrecklich. Fast alle Neulinge auf diesem Gebiet – selbst die Versionen die von Menschen geschrieben wurden, die behaupten sie wären für „Akzeptanz von Autismus“ oder sie würden das Prinzip der Neurodiversität unterstützen – verwenden den Sprachgebrauch des pathologischen Prinzips, was aber wesentlich zur Unterdrückung von Autisten beiträgt.

Vor allem verbreiten die meisten dieser Beschreibungen unwahre Informationen über Autismus und falsche Klischees – sogar viele der von Autisten geschriebenen Texte. Manche sind so schlecht, dass sie tatsächlich den DSM zitieren.

Natürlich gibt es auch dort in den "Was ist Autismus?" Texten ein paar sehr gute Stellen. Aber zum größten Teil handelt es sich um sehr persönliche Beschreibungen, über die einzigartigen Erfahrungen der Autoren über Autismus, anstelle von allgemeingültigen Einführungsdefinitionen.

Es bedarf einer guten grundlegenden Einführung als „Was ist Autismus?“ Text, der:

1.) im Einklang mit aktuellen Erkenntnissen steht

2.) nicht auf dem pathologischen Prinzip basiert

3.) prägnant, einfach und leicht zugänglich ist

4.) förmlich genug ist, damit ihn Fachkräfte und Akademiker verwenden können

Da ich nirgends einen solchen Text finden konnte, schrieb ich einen. Und hier ist er.

Ich gebe hiermit allen die Erlaubnis, den untenstehenden Text ganz oder teilweise zu reproduzieren, wann immer ein grundlegender „Was ist Autismus?“ oder „Über Autismus“ Text benötigt wird. Bitte erkennen Sie an, dass ich diesen Text geschrieben habe (und natürlich ist im akademischen Schreiben ein richtiges Zitieren ein Muss). So lange diese Anerkennung gewahrt ist, kann dies aber wirklich jeder tun und diesen Text einfach so verwenden.

Dieser Text wurde 2015 durch die „Autonomus Presse“ in dem Buch „Die wirklichen Experten: Lektüren für Eltern autistischer Kinder“ veröffentlicht. Um in wissenschaftlichen Arbeiten Zitate aus diesem Text zu verwenden, ist es generell anzuraten die gedruckte Veröffentlichung zu zitieren.

Der Text ist in verschiedene Sprachen übersetzt worden, die externen Links über den Flaggen führen zu den Seiten, auf denen die Veröffentlichungen der Übersetzungen zu finden sind:

Was ist Autismus?


Autismus ist eine genetisch bedingte menschliche neurologische Variante.

Die komplexen und miteinander zusammenhängenden Charakteristika, welche die autistische Neurologie von der nicht-autistischen Neurologie unterscheiden, werden noch nicht vollständig verstanden, aber aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der wesentliche Unterschied ist, dass autistische Gehirne durch einen besonders hohen Grad an synaptischer Konnektivität und Reaktionsvermögen gekennzeichnet sind. Das führt dazu, dass die subjektive Erfahrung der autistischen Personen intensiver und chaotischer ist als die nicht-autistischer Personen: Sowohl auf sensorisch-motorischer als auch auf kognitiver Ebene neigt der autistische Verstand dazu, mehr Informationen aufzunehmen, und die Auswirkungen von jedem bisschen Information tendieren dazu sowohl stärker als auch weniger vorhersehbar zu sein.

Autismus ist ein Entwicklungsphänomen, was bedeutet dass es im Mutterleib beginnt, es angeboren ist und während der gesamten Lebensdauer einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung auf verschiedenen Ebenen hat. Autismus verursacht charakteristische, untypische Arten des Denkens, der Bewegung, der Interaktion, sowie der sensorischen und kognitiven Verarbeitung.

Eine oft herangezogene Analogie ist, dass autistische Menschen ein anderes neurologisches “Betriebssystem” haben als nicht-autistische Menschen.

Nach derzeitigen Schätzungen sind ungefähr ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung autistisch. Während die Anzahl der Menschen, die als autistisch diagnostiziert wurden während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich gestiegen ist, weisen Aussagen darauf hin, dass dieser Anstieg an Diagnosen das Ergebnis eines gestiegenen öffentlichen und fachlichen Bewusstseins ist, anstatt einer tatsächlichen Zunahme der Häufigkeit von Autismus.

Im Kontext einer Gesellschaft, die im Sinne der sensorischen, kognitiven, entwicklungsbezogenen und sozialen Bedürfnisse nicht-autistischer Individuen gestaltet worden ist, werden autistische Individuen jedoch fast immer bis zu einem gewissen Grad behindert - manchmal ganz offensichtlich und manchmal subtiler.

Der Bereich der sozialen Interaktion ist ein Kontext, in dem autistische Menschen tendentiell durchgängig behindert werden. Das sensorische Erleben eines autistischen Kindes ist auf der Welt intensiver und chaotischer als das eines nicht-autistischen Kindes, und die beständige Aufgabe, diese Erfahrungen zu steuern und einzubeziehen, beansprucht somit mehr Aufmerksamkeit und Energie des autistischen Kindes. Dies bedeutet, dass das autistische Kind weniger Aufmerksamkeit und Energie zur Verfügung hat, um sich auf die Subtilität der sozialen Interaktion zu konzentrieren. Die Schwierigkeit den sozialen Erwartungen von Nicht-Autisten zu entsprechen, führt häufig zu gesellschaftlicher Ablehnung, die soziale Schwierigkeiten weiter verschärft und die gesellschaftliche Entwicklung behindert. Aus diesem Grund wurde Autismus häufig als eine Reihe von "sozialen und kommunikativen Defiziten" missverstanden, von denen, die sich nicht bewusst sind, dass die sozialen Herausforderungen mit denen sich autistische Menschen konfrontiert sehen nur Nebenprodukte der intensiven und chaotischen Natur der autistischen sensorischen Wahrnehmung und kognitiver Erfahrungen sind.

Autismus wird immer noch weithin als "Störung" betrachtet, aber diese Ansicht wurde in den letzten Jahren von Befürwortern des Neurodiversitätsmodells in Frage gestellt, welches besagt, dass Autismus und andere neurokognitive Varianten einfach Teil des natürlichen Spektrums der menschlichen biologischen Vielfalt sind, wie Unterschiede in der ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung (die auch in der Vergangenheit pathologisiert wurden). Letztendlich stellt die Beschreibung von Autismus als Störung eher ein Werturteil als eine wissenschaftliche Tatsache dar.