Erleben

(Beitrag in Zusammenarbeit der Roschinski Brüder mit dem White Unicorn e.V.)

Im Leben vieler Autisten wirkt es für die Umgebung verwunderlich, wenn manche Reaktionen kommen, die nicht erwartet werden. Es fällt immer wieder gerade Eltern, Lehrern und Pädagogen schwer, sich in die Wahrnehmungswelt von Autisten einzudenken. Diese Beispiele zu den jeweiligen Bereichen sollen helfen zu verstehen, warum manches Kind auf Zuverlässigkeit beharrt, z.B. wenn Absprachen gebrochen werden, die mit dem Kind vereinbart waren. Es soll auch verdeutlichen, warum ein gewisser Abstand von begleitenden Personen erwünscht ist und weshalb beim Lernen Stille als angenehm empfunden werden kann. Die Beispiele dienen dazu, sich besser in die Empfindungen von Autisten einzufinden. Sie sollen dabei helfen Empathie für Autisten zu entwickeln.

Bereich

Beispiele

Zeit-Abläufe

  • Verschiedene Abläufe kann man sich vorstellen wie eine Perlenkette. Eines nach dem anderen läuft ab. In der Früh steht man auf, man frühstückt, es geht in die Uni. Wird etwas geändert, muss eine Perle im "Ablauf" geändert werden. Um in einer Kette eine Perle auszutauschen, muss die ganze Kette neu gefädelt werden. Dies braucht eine Weile und benötigt Konzentration. z.B. wenn wegen Eisregen der Weg in die Uni nicht möglich ist. Die Zeit-Abläufe müssen neu geplant werden, z.B. zu Hause zu studieren.

  • unter Hast kann es passieren, dass der Ablauf wie Perlen dieser Kette auf den Boden fallen. Manche gehen dabei dann sogar verloren. Dann kann die Kette nicht mehr gefädelt werden wie sie war. Die Anstrengung dann die Perlen zu ersetzen und ganz neu zu fädeln, ist enorm.

    -> Bei behutsamem Vorgehen kann die Kette neu gefädelt werden, das dauert ein wenig. Dafür fällt keine Einzige herunter oder geht verloren. Und so wird in aller Ruhe der Zeit-Ablauf geändert.

Akustik

  • Vorgelesen bekommen unter Nebengeräuschen ist, wie einen gelesenen Text gegen Störgeräusche (Rauschen über Kopfhörer)/Rededurcheinander verstehen müssen

  • manche Geräte verursachen ein hohes Pfeifen, das hört sich an, wie ein hoher, greller Ton

  • es ist für manchen, als würden alle sehr laut sprechen, als würde ein Schwerhöriger gegenüber einem sitzen - man ist aber gar nicht schwerhörig

    -> in Ruhe gelesen, ohne Rauschen über Kopfhörer ist es verständlich. Zudem können mit schalloptimierter Zimmergestaltung Störgeräusche effektiv vermieden werden.

Grobmotorik - Feinmotorik!

  • Nadel einfädeln oder Schleife binden gestaltet sich wie mit dicken Handschuhen

  • Wachsverzierungen / Zinnsoldaten bemalen ist wie mit grobem Werkzeug unter Hast

    -> Zinnsoldaten bemalen / Wachszierde an Kerzen anbringen ist möglich, aber nur in der Ruhe liegt die Kraft! Dann gelingt auch eine Osterkerze, wie am Bild zu sehen. Durch die Gelassenheit beim tun kann sich Kreativität entwickeln, eigene Wege zu finden, z.B. eine Schleife auch anders binden zu können, oder Klett zu verwenden.

Hand-Koordination

  • Stricken in Eile ist, als sollten 2 Personen mit je einer Hand gemeinsam Socken stricken

  • Unter Stress ein Klavierstück spielen erscheint so schwer wie ein 4-Händiges, in dem alle Hände etwas Verschiedenes zu tun haben

    -> Jeder Ablauf besteht aus einer Abfolge von Einzelmomenten. Wird jeder bedacht, so ist es auch mit 2 Personen möglich ein Klavierstück zu spielen!

Handlungsabläufe

  • Ungewohnte Handlungen erscheinen oft, wie das erste Handy ohne Bedienungsanleitung nutzen müssen

  • Kochen in gewöhnlicher Alltagsumgebung kommt einem vor wie beim Herstellen, z.B. einer Süßspeise, dauernd gestört/abgelenkt werde (akustisch- optisch – taktil)

  • Anweisungen wirken, als sollte man etwas planen ohne Vorab-Infos, B.: “ein Segelschiff auftakeln“

    -> Weiß man wie, lässt sich sogar ein Segel mit komplizierter Takelage setzen

Körperwahrnehmung

  • Gegenstände in Räumen erscheinen wie zwischen 2 Stühlen (Abstand 40 cm) durchgehen/-laufen ohne den Körper zur Seite zu drehen, auch wenn es eng erscheint

  • Ein Bild unter Zeitdruck malen ist wie hinter jmd. sitzend diesen schminken müssen

  • eine moderne Treppe wirkt vom Gefühl, als würde man eine alte Steintreppe laufen, deren Stufen nicht völlig gleich sind

    -> mit ganz viel Achtsamkeit wird es gelingen, nur keine Hektik!

Koordination

  • Multitasking / Koordination vieler Dinge wirkt wie die Anfänge/Lernen von Fahrrad-/Auto-Fahren

    -> Schritt für Schritt, z.B. geduldig in eigener Geschwindigkeit den ADAC-Sicherheitstrainingskurs absolvieren.

Kraftdosierung

  • Gegenstände im Gewicht einschätzen ist wie etwas hochheben, was schwer aussieht, aber ganz leicht ist (oder umgekehrt)

    -> nimmt man sich Zeit das zu testen, ist es schwer oder leicht? So ist es nicht wichtig ob es nun leicht aussieht oder nicht. Man wird es merken und dann reagieren.

Soziales Regelverständnis

  • Soziale Regel erscheinen wie frei erfundenes Rollenspiel. z.B. – jmnd. kommt neu in eine Gruppe, wo die Regel ist, sich bei der Begrüßung die Ellenbogen zu geben, nur eine Person (Chef) bekommt den kleinen Finger gereicht (oder sonstiger höflicher Blödsinn!) – Alle sind beleidigt (=Hüpfen), wenn der „Neue“ etwas falsch macht.

  • man kann sich das kennen lernen von neuen sozialen Regeln verschiedener Gruppen und Millieus vorstellen, als müsste man die soziale Interaktion von Waschbären lernen

    -> Mit ganz viel Mühe kann man diese ganzen Regeln auswendig lernen - oder man nimmt den Gegenüber wie er ist und legt das Gewicht auf das Wesentliche, z.B. das Miteinander zu Arbeiten.

Soziale Wahrnehmung (Gesichte)

  • mit Leuten ins Gespräch kommen ist bisweilen, als würden sie augenscheinlich alle die gleiche Maske tragen

    -> es ist möglich wahrzunehmen, was hinter den Masken verborgen ist. Legen die Autisten den Fokus auf ihre eigene Wahrnehmungsweise, lernen sie die Menschen einschätzen, auch wenn die Menschen Masken tragen, die schwer zu durchschauen sind.

Berührungen

  • jmd. die Hand geben - es fühlt sich so an, als hätte er etwas Stacheliges in der Hand

  • jmd. berühren erscheint als wäre er "aufgeladen", so dass man "Eine gewischt bekommt"

  • unter starker Überlastung: wie mit einem Elektroschocker berührt werden

  • jmd. grüßend die Hand geben ist, als hätte derjenige klebrige, schmutzige oder stark parfumierte Hände

    -> Man kann sich das vorstellen, als müsste man so behutsam sein, wie um einen Igel mit den Händen hoch zu nehmen. Besser etwas Abstand halten und warten, bis der Autist auf einen zu kommt. Ein Winken oder verbale Äußerung zur Begrüßung reicht bisweilen völlig aus.

"Detailzoom"

  • unter Überlastung schreiben ist wie mit links (+ Störbrille) schreiben müssen

  • Starke Reizbelastung bewirkt, dass es ist als könnte man nur mit Spiegelbild-Kontrolle etwas tun/malen

  • Hektik erzeugt das Gefühl, als müsste man durch einen Camcorder blickend einen Parcours gehen

    -> in der Ruhe liegt die Kraft! für diese nützliche Fähigkeit des "Detailzooms".

Visuelles

  • Schnell etwas visuell erfassen müssen fühlt sich für manchen an, als würde man eine mit Creme beschmierte Brille tragen

  • Bereits sonniges Wetter wirkt für manche, als müssten sie bei Disco-Flackerlicht / starker Sonnenblendung etwas tun

  • Manche Lampen haben den Effekt, dass es ist als müsste man in einem Zimmer mit kaputter, flackernder Neonröhre leben

  • Bei einem überladenen Arbeitsblatt ist es, als wären alle wichtigen Infos kleingedruckt

  • Arbeitsblätt mit Figuren im Hintergrund können optische Täuschungen hervorrufen

    -> schlichte Arbeitsblätter, getönte Brillen, gedimmt gemütliche Beleuchtung, halbdurchsichtige Vorhänge im Zimmer, LED-Lampen uvm sind nützliche Accessoires. Es ist äußerst praktisch, wenn man bei wenig Licht noch lange etwas sieht, wenn andere bereits "im Dunklen tappen".