Inklusion

Inklusion: Wozu? Gesellschaftliche Aspekte

Spätestens in den frühen 1980er Jahren bahnten die Aktionen der Bremer „Krüppelgruppe“ auch in Deutschland der Erkenntnis den Weg, dass „Behinderten“ durch Degradierung zu Objekten die Möglichkeit genommen wird, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und nach Wegen zu suchen, diese durchzusetzen. Dies geschieht mittels einem detailliert festgelegtem Tagesablauf, zwangsweisen Therapieversuchen, Zuschreibung der passiven Rolle, Aberkennung von Sexualität und Angst vor Aussonderung mit den möglichen Folgen Überanpassung oder Selbstaufgabe [1].

1984 erläutert Thimm ausgehend von der Abkehr von der Defektorientierung und der Hinwendung zur Entwicklungsorientierung das Normalisierungsprinzip. Ursprünglich wurde dies vom Dänen Bank-Mikkelsen 1959 schriftlich niedergelegt und in Vorträgen mit „letting the mentally retarded obtain an existence as close to normal as possible“ formuliert [2]. 1969 wurde es durch den Schweden Nirje in acht Bereiche kategorisiert, die normalisiert werden sollten: Tagesrhythmus, Trennung von Arbeit-Freizeit-Wohnen, Jahresrhythmus, Lebensablauf, Respektierung von Bedürfnissen, angemessene Kontakte zwischen den Geschlechtern, wirtschaftlicher Standard und Standards von Einrichtungen [3].

Aus eigener Erfahrung kann der Autor berichten, dass Anfang der 1990er Jahre viele Studierende in den Seminaren von Thimm an der Universität Oldenburg die implizite zwangsweise Anpassung an eine kulturelle Norm kritisch sahen und eher mit einer „subjektiven Normalität“ sympathisierten. Daraus ergab sich die Ansicht, dass die Gesellschaft so barrierefrei zu gestalten sei, dass der Begriff „Behinderung“ als soziale Kategorie nicht mehr notwendig sei.

Wie kann eine solche „subjektive Normalität“ aussehen, woraus könnte sie sich zusammensetzen, und welche Voraussetzungen wären dafür notwendig?

Um dies zu erfahren, reicht es nicht, lediglich die gesellschaftliche Draufsicht zu nutzen. Die Binnensicht des Individuums - und hier besonders die eigene Identität im Hinblick auf Stigmatisierung - ist zur Erschließung wesentlich, denn soziale Identität verdeutlicht, wie Stigmatisierung zu Stande kommt [4]. Im Verlauf seiner Sozialisation ist für ein Kind das private Selbst noch häufig das eines Nichtbehinderten mit einem Handikap. Die Umwelt reagiert jedoch auf die Behinderung, was zu einem Identitätskonflikt führt, weil „die gesicherte Verortung im sozialen System infrage gestellt wird und soziales Selbst und privates Selbst deutlich voneinander abweichen“ [5]. Der von außen zugeschriebene Status wird der eines Menschen mit Behinderung. Hier bietet die Gesellschaft laut Goffmann [6] in der Regel einen Handel an, in dem vom stigmatisierten Individuum verlangt wird, sich weitgehend so zu benehmen, als ob es normal sei. „Dafür werde es dann auch wie ein Normaler behandelt. Zugleich wird ihm deutlich gemacht, dass es nicht normal ist und dass es dies anzuerkennen habe. Insbesondere habe es kein Recht, sich auf Normalität zu berufen“. Dies ist ein perfides System, welches daher auch das Normalisierungsprinzip unterläuft oder gar dessen Grundlage ist.

Um eine eigene, subjektive Normalität zu entwickeln, die auch den Bewertungen und Zuschreibungen von außen standhält, muss das Individuum zwischen den verschiedenen Erwartungen wählen, es muss Prioritäten setzen. Das kann es aber nur, wenn es einigermaßen verlässlich weiß, was es selber will und wie es sich sieht [7]. Und dies wird es nur lernen, wenn ihm oder ihr ausreichend barrierefreie(r) Zeit und Raum gegeben wird, um eine starke Identität mit hoher Resilienz gegen den äußeren Normierungsdruck zu entwickeln. Zugleich muss selbstverständlich der Normierungsdruck abgebaut werden, dies geschieht nach heutiger Kenntnis am besten durch Abbau physischer und sozialer Barrieren. Dazu gehört selbstverständlich der abgesenkte Bordstein für RollstuhlfahrerInnen, möglicherweise ebenso eine barrierearme Umgebung für junge AutistInnen sowie ganz besonders der gelebte inklusive Kontakt als erfolgreiche Strategie zur Veränderung der sozialen Reaktion [8] und damit der Abbau von Stigmatisierung.

Einen Schritt weiter geht Palmowski [9], der 2003 die These aufwirft, dass „Behinderungen und psychische Krankheiten nicht „entdeckt“, sondern „erfunden“ würden“. Waldschmidt [10] greift diese sozialkonstruktivistische Position auf, wenn sie ein „kulturelles Modell“ postuliert, in dem Behinderung kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal ist: „‚Behinderung‘ ist keine fixe Kategorie, sondern eher ein unscharfer Oberbegriff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen und kognitiven Merkmalen bezieht, die oft nichts anderes gemeinsam haben als das soziale Stigma der Begrenzung, Abweichung und Unfähigkeit“.

Oliver [11] kritisiert 1996 die „Normalitätsideologie“, die z.B. Nicht-GeherInnen langwierigen und demütigenden rehabilitativen Maßnahmen unterzöge, um ein unvollkommenes Fast-Gehen zu ermöglichen und er sieht darin eine Form der Machtausübung gegenüber behinderten Menschen ebenso wie eine Anpassung an eine Norm der „behindernden Gesellschaft“. Dies sei nichts anderes als die Unterdrückung einer abweichenden Minderheit, mit der sich daraus aufbauenden politischen Forderung, die soziale Umwelt auf eine Weise zu gestalten, dass der Mobilität der Nicht-GeherInnen keine Barrieren in den Weg gelegt werden. Des Weiteren müssten die kulturellen Deutungsmuster, die das „Gehen“ zu einer Normalität erklären, dekonstruiert werden. Allerdings ist zu bedenken, dass eine für alle Menschen komplett barrierefreie Umwelt eher nur in Städten funktionieren kann, die dann aber möglicherweise so umgestaltet werden müssten, dass die dadurch erzielte Teilhabe um den Preis der Elimination dessen, woran man teilhaben soll, erzielt würde [12], auch deshalb, da sich die Barrieren für einzelne Menschen möglicherweise diametral gegenüberstehen. Daher scheint eine Regulierbarkeit der durch Barrieren auf Menschen einwirkende Einflüsse eine sinnvolle Option.

Da es also mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht zu einer vollkommen barrierefreien Welt kommen wird, ist - neben der Regulierbarkeit von Barrieren - für die Bildung einer starken Identität und einer daraus abzuleitenden „subjektiven Normalität“ wichtig: Die aufwachsenden Kinder, denen eine Behinderung sozial zugeschrieben wird, sind durch das Aufwachsen in einer weitgehend barrierefreien Umgebung zu stärken. Dadurch können sie im optimalen Falle eine gewisse Resilienz gegen die später auf sie einstürmenden Zuschreibungen entwickeln; gleichzeitig muss der gelebte inklusive Kontakt zum Abbau der sozialen Reaktion (mit dem Konzept der Behinderung) weiter ausgebaut und vorhandene Barrieren so weit wie möglich abgebaut werden.

Aus den USA kommend, haben die „Disability Studies“ mit dem Anspruch, als Querschnittsdisziplin attraktiver und wahrnehmbarer zu sein sowie mit der Position, dass Behinderung zur Vielfalt des menschlichen Lebens gehört [13], zur Wahrnehmung von Integration/Inklusion als Normalzustand beigetragen. Auch politisches Empowerment nimmt seine Antriebskraft aus kritischer Bildung und dem Bewusstmachen unterdrückender Strukturen [14]. Dabei haben sowohl soziale Netzwerke als auch das Verhalten der AktionspartnerInnen einen maßgeblichen Einfluss auf das Empowermentpotenzial. Schon primäre Sozialisationsprozesse zur Herstellung von Selbstbestimmung sind demnach ein Element von Empowerment [15].

Entscheidender Durchbruch für die gesellschaftliche Inklusion war sicherlich das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2008. So heißt es in

Artikel 1 - Satz 1: "Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern."

Artikel 1 Satz 2 : „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ [16] Die Begriffe „Würde“, „Barriere“ und „Teilhabe“ weisen hierbei den Weg in die Zukunft. Daher ist es entscheidend, Barrieren aufzufinden, zu benennen, gegebenenfalls zu beseitigen, um jedem Menschen ein weitgehend würdevolles Leben mit dem von ihr/ihm erwünschtem Maß an Teilhabe zu ermöglichen. Selbstverständlich sind Interessenverbände wie die der AutistInnen hierbei die ersten Ansprechpartner, denn wer kann besser Barrieren identifizieren als von Barrieren betroffene?

Teilhabe in der Schule: Von Integration und Inklusion

Der Anblick von sichtbaren körperlichen Behinderungen ruft bei nichtbehinderten Menschen in der Regel psycho-physische Reaktionen wie Angstgefühle und Unbehagen hervor. Die Interaktion mit körperbehinderten Menschen wird zukünftig vermieden. Diese Interaktionsvermeidung hat ein relativ hohes Maß an Isolation für den Menschen mit einer körperlichen Behinderung zur Folge und kann Grundlage einer weitreichenden Diskriminierung sein. [17]

Um diese Reaktionen (die vermutlich auch durch andere „Behinderungen“ hervorgerufen werden) und ihre Folgen zu vermeiden, wurde integrativer Unterricht und die damit einhergehende Erhöhung der Toleranzschwelle als sinnvoller Weg zu mehr Teilhabe erkannt. Eine Studie von Preuss-Lausitz in Brandenburg von 1995 bestätigt, dass nicht-behinderte SchülerInnen in Integrationsklassen im Durchschnitt toleranter sind als jene in nichtintegrativen Klassen. Es zeigt sich sogar ein „Transfer-Effekt“ gegenüber Kindern mit anderen Handicaps wie „Dicksein“. Graumann und Rakhkochline [18] weisen darauf hin, dass alle bekannten Untersuchungsergebnisse weder für behinderte noch für nichtbehinderte Kinder leistungsmäßige Nachteile durch Integration erkennen lassen.

Bereits in einer englischen Vergleichsstudie von 1988 [19] zeigt sich für die Leistungsentwicklung geistig behinderter Kinder für die Bereiche: „sprachliche Ausdrucksfähigkeit“, „Sprachverständnis“, „Zahlbegriffsordnung“, „Wortfindung“ und „Zeichnen“ ein deutlicher Vorteil der integrativen Beschulung gegenüber der Normalbeschulung. In einer Übersicht über mehrere Studien zeichnet Ahrbeck [20] ein etwas anderes Bild: „Die Gleichung `bessere kognitive Entwicklung und mehr Lernerfolge in der Integration, dafür eine höhere psycho-soziale Belastung` ist eine Interpretationslinie, die sich bei Durchsicht des empirischen Datenmaterials anbietet – auch wenn es nahe liegt, dass ein Sonderschulbesuch durchaus ambivalent erlebt wird“. Über eine Studie zum Hamburger Schulversuch sagt Wocken sogar: „Die Negativbilanz der integrativen Regelklassen ist in der Summe der Fakten bestürzend: weniger gymnasiale Empfehlungen, keine Reduktion von Sonderschulüberweisungen, durchgängiger Leistungsrückstand der Integrativen Regelklassen“ [21].

Insgesamt ist die Förderung der gesellschaftlichen Toleranz möglicherweise die zentrale Aufgabe schulischer Inklusion, was nicht weiter überraschend wäre, wenn man den soziokulturellen Hintergrund der IdeengeberInnen der Integration und der Inklusion mitbedenkt, denn deren moralische Grundlage dürfte stark von einem „Nie Wieder!“ gegenüber der Rassen- und Aussonderungsideologie des „Dritten Reiches“ geprägt gewesen sein. Trotz mehrerer Jahrzehnte Forschung und Praxis auf diesem Gebiet sind vorhandene Kenntnisse über die Entwicklung inklusiver Schule nicht konsistent zusammen getragen worden. Leider blieb lange unklar, inwiefern an vorhandenes Wissen aus der Forschung und Praxis der Integration angeknüpft werden kann [22]. Es zeigt sich jedoch, dass „Integration und Inklusion keineswegs unterschiedliche Ansätze darstellen, Inklusion jedoch in der Konsequenz stärker auf die Schulentwicklung fokussiert ist und auf Etikettierung von Schüler/innen zur Ressourcengewinnung“ verzichten möchte. Nach Hinz [23] „[vermeiden es] inklusive Konzepte (...), in der Sprache des sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ zu denken und zu handeln; stattdessen stellen sie unterschiedlichste Barrieren für das Lernen und die Teilhabe‘ in den Mittelpunkt, mit denen jeder Mensch konfrontiert ist.“

Eine gute inklusive Schule zeichnet sich laut Werning [24] durch eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung von Unterschiedlichkeit aus, selbstverständlich gefördert durch eine kompetente und starke Schulleitung, die sich zu inklusiven Prinzipien bekennt. Diese Schulen tendieren zu flexibleren und weniger segregierenden Unterrichtsformen, also eher zu individuellen Lernplänen, Differenzierung im Unterricht und Ähnlichem.

Jedoch: Selbst wenn man von gut fortgebildeten LehrerInnen ausgeht, lässt sich feststellen, dass diese zwar eine neue Perspektive auf den Begriff der Behinderung erhalten haben sowie viele Mittel zu selbstreflexivem Verhalten zur Verfügung gestellt bekommen, dass es aber weiterhin unglaublich wenig Material gibt, welches dem Lehrpersonal weiterhelfen kann, eine konkrete inklusive Situation im Unterricht zu bewältigen.

Viele Vorschläge dahingehend [25] sind eher von allgemeiner theoretischer Natur, die in konkreten Situationen schwer umsetzbar sind oder zu abstrakt scheinen und zu Ende gedacht teilweise leider in sich widersprüchlich anmuten.

Feusers Vorstellung von Inklusion zum Beispiel sieht die entwicklungslogische Didaktik als Schritt zu einer “allgemeinen Pädagogik”, die mittels Projekten im Unterricht zur Überwindung eines selektierenden und segregierenden Bildungssystems führt, auch um diese allgemeine Pädagogik Auswüchsen wie der “Neuen Euthanasie” entgegenzusetzen. [26] Die von ihm vorgeschlagenen Tätigkeits- Handlungs- und Sachstrukturanalysen führen unzweifelhaft zu einer geschärften Wahrnehmung über die Zonen der aktuellen und proximalen Entwicklung nach Wygotski (2005), der Randbedingungen und des zu vermittelnden Wissensanteils und damit zur besseren Erreichung individueller Lernziele, sie sind aber auch so hoch vorstrukturiert, dass nicht ersichtlich ist, ab welcher Projektphase die SchülerInnen denn nun aushandeln können. Theoretisch ließen sich diese Analysen auch zur individuellen und instruktiven Förderung von SchülerInnen in einer koexistenten Gruppe-in-Gruppe-Situation – und damit segregierend - nutzen.

Wocken [27] erkennt im kooperativen Lernen das höchste Potential für inklusive Schulformen. Für die wesentlichen Bestandteile: positive Interdependenz, persönliche Verantwortlichkeit, direkte und fördernde Interaktionen, kooperative Arbeitstechniken und soziale Kompetenzen sowie Reflexion und Evaluation der Gruppenprozesse gibt er dankenswerterweise auch eine Reihe praktischer Beispiele.

Boban und Hinz sehen das anders: Das kooperative Lernen gehe von der konsequenten Initiative starker LehrerInnen aus, die die Situation im inklusiven Klassenraum dominierten. Demokratische Schulen arbeiteten im Gegensatz dazu in der Überzeugung, dass jedwede Fremdbestimmung von Lernenden eine Einschränkung der Freiheit bedeute. Den SchülerInnen werde dort konsequent die Initiative für eigenen Lernprozess überlassen. Dies sei wichtig, da Inklusion in einem auf Selektion hin konzipierten Schulsystem in seinen Ansätzen oft auf das Problem stoße, subjektorientiertes Handeln innerhalb eines testfixierten Curriculums zu versuchen [28].

Kritik am Konzept der Inklusion in einer Leistungsgesellschaft

Kann inklusive Schule in einer Leistungsgesellschaft funktionieren?

Diese Frage stellt sich, da Leistungsbeurteilung in einem inklusiven Schulsystem die Antinomie von Fördern und Bewerten klar zum Vorschein bringt [29]. Der Index für Inklusion möchte zu einer inklusiven Kultur mittels höchstmöglicher Entfaltung der Begabung durch Wertschätzung gelangen [30]. Diese Vorgehensweise solle allen zu Gute kommen, egal welchen Geschlechts, welcher ethnischer und sozialer Herkunft, welcher religiöser Zugehörigkeit, welcher sexueller Neigung, ob Arm oder Reich oder welches Körpergewicht ein Mensch mitbringt [31]. So wäre es sicherlich wünschenswert, wenn SchülerInnen inklusiv – wie in demokratischen Schulen üblich – sich in hierarchie- und bewertungsfreien Räumen gemeinschaftlich bestimmte Themenstellungen vornehmen, sich selbst gewählter Herausforderung stellen und Lösungen gemeinsam entwickeln. Dabei sollte die Einmaligkeit jeder Person und das Recht, diese Einmaligkeit auch ausdrücken zu können, im Vordergrund stehen [32].

So bestätigt die neurobiologische Forschung, dass Bildungsprozesse weniger das Memorieren von Wissen oder das Einüben funktionell effektiver Komponenten sind, sondern viel eher die Teilhabe an der Welt der Anderen, die mit ihrer differenten Perspektive die eigene störend erweitern, während beide/alle einen gemeinsamen Bedeutungsraum schaffen, in dem sie sich in ihren jeweiligen Sinnbildungsprozessen wiederfinden können. Hierbei übt sich das Lehrpersonal nicht im intervenieren, sondern im convenieren, also der Herstellung eines von den SchülerInnen als sinnvoll erlebbaren Zusammenkommens [33].

Aus der Perspektive der demokratischen Schulen, die diesen Weg bereits praktizieren, sind jedoch die Haupthindernisse für die Inklusion Normierung und Fremdbestimmung. Die Klimabelastung zwischen LehrerInnen und SchülerInnen durch allgemeine Überwachung und Bewertung sei enorm [34]. Eine an Bildungsstandards orientierte Bildungspolitik könne daher nie inklusiv sein [35]. Jedoch hat die Schule einen Selektionauftrag durch die Gesellschaft, die sich wiederum ganz entscheidend über (messbare) Leistung und Schulabschlüsse definiert. So hilft sich die Schule mit Bewertungen nach individueller, sozialer und sachlicher/kriterialer Bezugsnorm in Sach-, Methoden- und Sozialkompetenz. [36] Nachteilsausgleiche erzeugen hier ein Spannungsfeld zwischen „exklusiver Behandlung in der Leistungserbringung auf der einen Seite und gleichzeitiger partieller Exklusion aus der schulischen Leistungslogik und damit ihrer institutionellen Anerkennungslogik“ [37]. Wer allerdings „Leistung“ mit „Gelingen angesichts Schwierigkeiten“ übersetzen möchte, könnte mit Bloch [38] als Leistungsanforderung benennen; „Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern“.

Abgesehen davon, dass der Wortstamm des Begriffes Inklusion, „includere“, mit einschließen, einsperren, einengen, einschränken, umschließen, umgeben, also wegschließen von der Welt übersetzt wird, wird laut Sierck [39] bei der Inklusionseuphorie übersehen, dass die gesellschaftliche Tendenz im Gegenteil zu mehr tatsächlicher oder möglicher Ausgrenzung geht. Attraktives (und damit normgerechtes) Aussehen von Frauen und Männern werde immer mehr ein wichtiger Faktor für das Erreichen von privaten Zielen und gesellschaftlich anerkannten Positionen, überflüssige Menschen wären vom sozialen Aus bedroht, aus Furcht vor dem eigenen sozialen Abstieg sollten die sozial Schwachen ihr Leben selbst in die Hand nehmen [40]. Auch die Praxis der Inklusion in Schulen führt durch immer feinere Förderinstrumente zu einem immer schmaleren Bereich, in dem ein Mensch „normal“ ist – hier führt Inklusion sogar zu stärkerer Normierung.

Das Dilemma zwischen Leistungsnormen und Inklusionsanspruch führt zur Umetikettierung vieler Anstalten bei Beibehaltung ihrer Funktion. Die Arbeitslosigkeit bei behinderten Menschen nimmt zu, ebenso die Zahl der Werkstätten für Behinderte, obwohl laut einer Studie des interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Bielefeld von 2012 geschlossene Systeme in der Behindertenarbeit die Gefahr von Gewalt und Unterdrückung forcieren [41]. Ob sich die Wirklichkeit durch Dekategorisierung in ein neues, diskriminationsfreies und unanstößiges Format finden wird, ist nach Ahrbeck [42] zumindest zweifelhaft.

Auch für die Schule ist es derzeit noch ziemlich unklar, wie ein inklusionspädagogischer Leistungsbegriff in zieldifferenten Unterrichtssettings aussehen könnte, ohne eine Gemeinschaftlichkeit zu verhindern.

Daher gilt vorerst: Klasseneffekte sind größer als Systemeffekte [43], es ist also weiterhin das „Gelingen“, die Qualität der pädagogischen Arbeit vor Ort, die den Schulerfolg entscheidet. Und genau für dieses Gelingen der pädagogischen Arbeit in Inklusionssituationen gibt es zu wenig konkretes, praktisches, didaktisches Material.

Inklusion von AutistInnen in der Gegenwart

„In schulische Praxis umgesetzt bedeutet vollständige Inklusion: Kein Kind muss besondere Leistungen erbringen oder besondere Eigenschaften nachweisen, damit es eine bestimmte Schule besuchen darf.“ [44] Dass dies noch nicht gewährleistet ist, zeigt eine Studie aus Österreich, bei der Reicher, Wiesenhofer und Schein 2006 [45] 75 mit AutistInnen im integrativen Setting arbeitende LehrerInnen befragten. Geschildert wurden:

- Probleme im Umgang mit Unruhe und Lärm

- Probleme durch fehlende Tagesstruktur

- Probleme durch zu hohe SchülerInnenzahl

- Probleme durch wenig Zeit für spezielle Bedürfnisse

Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass diese SchülerInnen doch besondere Eigenschaften mitzubringen haben, um eine Schulsituation zu bewältigen. Nach dieser Studie scheint Schule für AutistInnen ein „stress- und angstauslösender Ort zu sein, an dem sie vielfach unter Bullying und sozialer Isolation leiden und von Underachievement und Suspensionen oder Exklusionen vom Schulbesuch bedroht sind“. 70 % aller AutistInnen in Deutschland gehen auf die Sonderschule, davon 40 % mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung [46], obwohl Studien in den USA nahelegen, dass alle AutistInnen am allgemeinen Bildungswesen und möglichst am gemeinsamen Unterricht partizipieren sollen. Abgesehen davon haben die meisten LehrerInnen in den heutigen Schulen wenig Wissen über Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen bei der Inklusion von AutistInnen [47].

Eine Umfrage in Schottland und Wales bei 1.000 Eltern, UnterstützerInnen und AutistInnen selber [48] gibt klare Hinweise: Und: “The policy of inclusion must ensure that appropriate learning or other positive experiences take place. It is not simply about where an individual is educated or receives services or support; it is about the quality of such a service or support”. Qualität fördert also Gelingen. Die Aus- und Fortbildung des Personals sei der Schlüssel zur individuellen Entwicklung der AutistInnen.

Was gute Inklusion ausmacht, schildert Linke [49] aus eigener Erfahrung: „Gleichwertig bedeutet nicht gleichmachen, es bedeutet, jedem dieselbe Chance zu geben. Das bedeutet auch, dass besonders gute SchülerInnen, besonders schlechte SchülerInnen und durchschnittliche SchülerInnen an nichts gehindert werden (…). Und das alles vor meiner Diagnose. Einfach, weil man meine Unzulänglichkeiten und meine Stärken sah und darauf einging. Ich brauchte keinen Zettel, auf dem irgendeine Krankheit stand, keine Therapie und keinen Wechsel zur Realschule. Ich brauchte Menschen, die sich Mühe mit mir geben, so wie ich mir Mühe mit ihnen gebe“. Wesentlich sind demnach wertschätzendes, empathisch-verstehendes Verhalten, Achtsamkeit, gemeinsames Tun und Experimente (im Anbieten unterschiedlicher Materialien, aber auch z.B. im Spiegeln von Verhalten), um auf Entwicklungs- und Lernprozesse positiv Einfluss zu nehmen [50]. Schulische Lernsituationen dürfen nicht sensorisch, kognitiv, sozial und emotional überfordern und müssen individuelle Stärken und spezielle Interessen beachten, um nicht zu unterfordern und Begabungen und Talente zu verpassen.

SchulhelferInnen, aber auch ErzieherInnen und Lehrpersonal müssen gezielt unterstützt werden, um sie auf ihre Tätigkeit vorzubereiten, dies könne durch PraxisberaterInnen geschehen. Theunissen [51] meint hier erfahrene SonderpädagogInnen, es ist aber nicht zu verstehen, warum für diese Aufgabe nicht erfahrene AutistInnen im Einklang mit dem Ansatz des „peer counseling“ der UN-Behindertenrechtskonvention als ExpertInnen in eigener Sache eingesetzt werden [52].

Schulorganisatorisch muss die Schule Bereitschaft zeigen, räumliche, materielle und personelle Ressourcen zu organisieren. Vorausgesetzt wird die Aufgeschlossenheit aller Lehrkräfte für Inklusion sowie die Fort- und Weiterbildung des gesamten Schulpersonals in Bezug auf Autismus. Der schulische Kontext muss so weit wie möglich passend sein, dies betrifft vor allem auch den Umgang mit oder idealerweise den Abbau von Barrieren zur schulischen Teilhabe von AutistInnen. Dies kann beispielsweise schon schwierig werden, wenn ein anderes als das stark riechende, aber gesetzlich vorgeschriebene Putzmittel verwendet werden soll. Ressourcenräume werden für Arbeit in kleinen Lerngruppen, zeitweiligen Rückzug zur Entspannung oder zur psychischen Entlastung, zur Stressbewältigung, aber auch als Refugium, Ruhe- oder Leseraum (in Pausen oder Sportunterricht) als unabdingbar betrachtet [53]. Allerdings könnten Ressourcenräume auch zur Separation und Förderung auf Basis defizitärer Behandlungsansätze dienen, was dem Inklusionsgedanken widerspräche. Der Interessenverband „White Unicorn e.V.“ schlägt daher vor, eher auf Lernräume der Stille zurückzugreifen, um Teilhabe am normalen Klassengeschehen unter Minimierung der Barrierelast (ggf. Konferenzschaltung) zu ermöglichen [54].

Leider lässt die Tendenz, Inklusion zu standardisieren, wenige Lücken für kreative Lösungen, deren Nutzung aufgrund der heterogenen Vielfalt der Menschen notwendig ist. Anstatt für mehr Toleranz und Möglichkeiten zu sorgen, wirkt Inklusion hier durch ihr enges Korsett sogar eher normverstärkend – alles, was aus der Norm herausfällt, muss gefördert oder behandelt werden. Förderung an sich macht jedoch nicht glücklich – Selbstwirksamkeit macht glücklich. Insofern wäre eine Unterstützung der Selbstwirksamkeit bei gleichzeitiger Akzeptanz der AutistInnen in ihrem „So-Sein“ eine handhabbare Lösung. Dies könnte zum Beispiel durch Unterstützung bei der Regulierbarkeit von Barrieren geschehen. Maximal zweizügige inklusive Kleinschulen mit weniger als 20 SchülerInnen, in denen die Barrierelast einfacher reguliert werden könnte, wären hierfür sicherlich günstig.

Der White Unicorn e.V. sieht derzeit in Schulen kein universelles Design umgesetzt, welches von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine spezielle Anpassung genutzt werden könne. Daher sei für AutistInnen die Resilienz, d. h. die Entwicklung von Widerstandsfähigkeit in den Bereichen der Kommunikation, des Lernens und der körperlichen sowie seelischen Gesundheit das oberste Ziel, welches letztlich nur durch Barrierefreiheit erreichbar wäre. Falls aufgrund vorhandener Barrieren nicht anders möglich, könne Onlinebeschulung in Verbindung mit Moodle und interaktiver Smartboardnutzung ein Weg sein, ein Kind in der wohnortnahen Regelschule einzuschulen. Dabei bliebe die Möglichkeit, je nach Verfassung des Kindes in der Klasse er wohnortnahen Regelschule, in Lernräumen der Stille oder per Konferenzschaltung, Chat und Moodle von zu Hause aus zu lernen. Gleichzeitig müssten aber die behindernden Barrieren abgebaut werden, die die Beschulung zu Hause erzwängen [55].

Die Enthinderungsselbsthilfe (ESH), ein weiterer Interessenverband der AutistInnen, sieht dies ähnlich: „Onlinebeschulung an Regelschulen kann eine Eskalation der Schulsituation, z.B. aufgrund von wiederkehrenden auf die Barrieren zurückzuführenden Schmerzempfindungen des AutistInnen, im Einzelfall vermeiden und trotzdem eine dem [… R.S.] Intellekt angemessene Schulbildung ermöglichen“ [56]. Ermöglicht werden solle dies unter anderem durch eine Videoübertragung.

Aus dem geschilderten Forschungsstand zu Inklusion und zu AutistInnen lassen sich für die Bearbeitung folgende Hypothesen ableiten:

  • AutistInnen benötigen in vielen Bereichen einen Abbau von Barrieren, zumindest aber regulierbare Barrieren

  • Der Abbau von Barrieren ermöglicht über die Erlangung eines neurologischen Ruhezustandes langfristig Potentialentfaltung und Resilienz; dies macht inklusive Beschulung erst effektiv möglich.

Einzelnachweise


1. Sierck 1987, S. 153 ff. Die Entwicklung der Krüppelgruppen. In: Michael Wunder (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand ; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981. Unter Mitarbeit von Udo Sierck. 2. Aufl. Frankfurt: Mabuse.

2. zit. n. Thimm 1995, S. 18 Thimm, Walter (Hg.) (1995): Das Normalisierungsprinzip. Eine Einführung. 6. Aufl. Marburg: Lebenshilfe-Verl. (Kleine Schriftenreihe / Bundesvereinigung Lebenshilfe für Geistig Behinderte e.V, Bd. 5).

3. zitiert nach Thimm 1995, S. 19 f.

4. Cloerkes 1997, S. 153 Cloerkes, Günther (1997): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Heidelberg: Winter Programm Ed. Schindele.

5. Frey zit. n. Cloerkes 1997, S. 165

6. zit. n. Cloerkes 1997, S. 153

7. Frey zit. n. Cloerkes 1997, S. 165

8. Cloerkes 1997, S. 173

9. zit. n. Kastl 2010, S. 47 Kastl, Jörg Michael (2010): Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. Online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.1007/978-3-531-92314-7

10. zit. n. Kastl 2010, S. 47

11. zit. n. Kastl 2010, S. 51

12. Kastl 2010, S. 55

13. Waldschmidt 2005, S. 13: Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Clemens Dannenbeck und Claudia Franziska Bruner (Hg.): Psychologie & Gesellschaftskritik. 29. Jahrgang, 29. Jahrgang, Nr 113, 2005, Heft 1. 29. Jahrgang. Gießen: Psychosozial-Verlag (113), S. 9–31.

14. Schirbort et al. 2011, S. 270

15. Schirbort et al. 2011, 169 f.

16. UNO 2006b

17. Cloerkes 1985, Kapitel 15, S. 2 ff.

18. Graumann und Rakhkochline 2007, S. 315 ff

19. Casey zit. n. Maikowski und Podlesch 1997

20. Ahrbeck 2014, S. 9

21. Wocken 2001, S. 396

22. Moser und Deppe-Wolfinger 2013, S. 8

23. Hinz 2009, S. 179

24. Werning 2013, S. 51

25. Prengel 2013; Heinen 2003; Seitz 2006; Feuser 2009

26.Feuser 1997, 290 f.

27. Wocken 2011, S. 164 ff.

28. Hinz (2008, S. 71)

29. Hopmann et al., 2016, S. 6

30. Boban und Hinz 2008, S. 72

31. Ahrbeck 2014, S. 8

32. Boban und Hinz 2008, S. 84 f

33. Rödler 2013, S. 43 f.

34. Gidion 2011, S. 209

35. Rödler 2013, S. 44

36. Nuding und Stanislowski 2013, S. 37 f.

37. Lau/Kiene/Goldmann in Hopmann et al., 2016

38. zit. nach Nuding und Stanislowski 2013, S. 40

39. Sierck und Radtke 2013, S. 8

40. Sierck und Radtke 2013, S. 73 f.

41. zit. n. Sierck und Radtke 2013, S. 41

42. Ahrbeck (2014, S. 13)

43. Bleidick, zit. n. Ahrbeck 2014, S. 16

44. Wember 2013, S. 380

45. Knorr; S. 2 f.

46. Knorr zit. n. Theunissen 2014, S. 180

47. Theunissen 2015, S. 25 ff

48. Barnard et al. 2000

49. Linke 2014

50. Theunissen 2015, 21 ff.

51. Theunissen (2014, S. 201 f.)

52.UNO 2006a

53. Theunissen 2014, S. 198ff.

54. White Unicorn e.V. https://www.white-unicorn.org/?mod=modellprojekt

55. White Unicorn e.V. https://www.white-unicorn.org/?mod=foerderung

56. ESH 2015, S.3