Autismus
Video: Schule & Autismus
Lukas Hümpfer-Gerhards mit Stephanie Fuhrmann im Interview
Stephanie Fuhrmann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Standortleitung im Projekt schAUT für den White Unicorn e.V.
Lukas Hümpfer-Gerhards ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt schAUT und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Humboldt Universität zu Berlin
Lukas: Wie ist man darauf gekommen, dass es so etws wie Autismus und Neurodiversität gibt?
Stephanie: Man ist ganz am Anfang darauf gekommen, indem Kinder beobachtet wurden und man hat festgestellt: sie sind anders. Sie zeigen Verhaltensweisen, die von der Norm in irgend einer Weise abweichen. Früher ist man davon ausgegangen, dass das heißt, dass etwas nicht stimmt, dass es etwas Negatives sein muss. Das ist ungefähr vor 100 Jahren passiert.
Mittlerweile weiß man aber, seit ungefähr den 90er Jahren weiß man um diese Erkenntnis, dass Autisten schon in Ordnung sind, so wie sie sind. Auch wenn sie ganz anders sind, wie der Durchschnitt. Daraus hat sich die Neurodiversitätsbewegung entwickelt, weil es immer mehr Menschen auf der ganzen Welt gibt, die erkennen: Ja, Autisten sind in Ordnung!
Lukas: Kannst Du mir erklären, was Autismus aus der Perspektive der Neurodiversitätsbewegung bedeutet?
Stephanie: Es bedeutet, dass man weiß, dass autistische Kinder von Geburt an so sind. Das hat man in der Wissenschaft festgestellt, dass es das ganze Leben lang den Charakter, die Persönlichkeit verändert und zwar sehr tiefgreifend. Autisten sind immer anders wie die Norm. Durch diese Abweichung von der Norm spricht man von einer Neurominderheit. Das heißt wir Autisten sind eine kleine Gruppe, die anders ist wie die anderen, um es ganz einfach runter zu brechen.
Diese autistischen Eigenschaften lassen sich relativ klar umranden. Man weiß die Entwicklungsbereiche in denen Autisten verschieden sind sehr genau: in der Sprache, in der Motorik, im Denken, in Handlungsweisen, alles klar umrandet definiert. Neurodiversität sagt hier, das ist okay, das ist ein bisschen wie ein anderes Betriebssystem. Wir sind anders, das ist gut so.
Lukas: Wenn wir von Neurodiversität ausgehen, braucht es dann überhaupt Diagnosen? Wie sollten Autisten am besten von der Gesellschaft behandelt werden?
Stephanie: Aus meiner Sicht ist es gefährlich von Diagnostik zu sprechen, weil hier ganz oft von dem alten Konzept ausgegangen wird, dass alles was von der Norm abweicht irgendwie nicht gut ist, falsch ist, normiert werden muss, in Richtung Norm bewegt werden muss. Dieses Risiko hat die Diagnose leider bis heute.
Wenn eine Diagnose nur verwendet wird, um zu sagen: okay, ist ein Autist, wir wissen ja, Normabweichung wird im ICD abgebildet, wir bauen jetzt die Barrieren ab, so dass der Autist wieder leben kann: fröhlich leben kann, lernen kann, dann finde ich die Diagnostik in so fern in Ordnung, als dass der ADOS nichts anderes ist als einfach nur zu schauen: okay, wenn ich diese und jene Sachen tue, reagiert das autistische Kind autistisch oder nicht? Diese einfache Frage an sich ist ja noch in Ordnung. Es ist nur eben dann zu folgern: "Kind muss normalisiert werden!" - schwierig.
Lukas: Du hast eben den ADOS erwähnt, das ist ein Diagnostik-Tool, richtig?
Stephanie: Genau, das ist das Standard Diagnose-Tool. Es wird zwar mittlerweile daran gearbeitet, dass man auch andere Möglichkeiten hat festzustellen, ob ein Kind autistisch ist oder nicht, nur es ist lange nicht so anerkannt. Es sind zwar auch schon Standards, die auf den ADOS verzichten, aber der ADOS gilt als der Goldstandard. Ganz viele Länder in Deutschland bestehen auf dieses Diagnostik-Tool, weil sie sagen: "nur wenn das gemacht ist wissen wir sicher, das ist ein Autist, jetzt müssen wir Barrierabbau machen" - bestenfalls. Zumindest ist das unsere Hoffnung, dass wenn die Diagnose da ist, die Menschen sagen, jetzt werden die Barrieren abgebaut, damit das Kind wieder lernfähig ist. Damit es glücklich leben kann, damit die Lebensbedingungen so gestaltet werden, dass der Autist gesund heranwachsen kann.
Lukas: Du hast ja schon eben gesagt, dass Autismus eine Abweichung von der Norm ist. Wenn wir uns jetzt mal den Bildungsbereich anschauen, könnte man ja sagen, dass Daheim-Beschulung die beste Option sein könnte, oder eine gute Option sein könnte. Hältst Du das für eine gute Option für autistische Kinder? Oder wenn es dazu kommt, worauf sollte dabei am Besten geachtet werden aus Deiner Sicht?
Stephanie: Ich halte Home-Schooling (Englisches Wort für Daheim-Beschulung) für eine sehr ganz wunderbare Perspektive auf der ganzen Welt. Ich arbeite mit vielen Ländern zusammen, bei denen das Gang und Gäbe ist. Dort weiß man, dass soziale Integration nicht vom Schulbesuch abhängig ist. Das heißt sie gehen in Sportvereine, sie haben Familienfeste, sie haben ein ganz großes soziales Leben im Home-Schoooling. Dabei sind die ganzen Lehrer vernetzt, die Schüler sind vernetzt die im Home-Schooling sind, da ist sehr viel Interaktion.
In Deutschland ist, dadurch dass Home-Schooling komplett tabu und verboten ist, die Frage eine andere. Die Frage ist in Deutschland einfach: "Okay, wenn ich merke, mein Kind steht zu vielen Barrieren gegenüber, ist es in Ordnung, dass das Kind auch mal im Distanz-Unterricht, wie bei Corona z.B., eine Weile lang zu Hause lernen kann?" Das um eben zu schauen, was sind für Barrieren an der Schule? Wie können diese abgebaut werden, damit das autistische Kind den Anschluss zur Klasse, zur Sozialen Teilhabe und am Schulischen nicht verliert?
Grundsätzlich ist diese Frage somit nicht zu beantworten, weil wir uns in einem spezifischen Gebiet "Deutschland" befinden.
Lukas: Also würdest Du im deutschsprachigen Kontext sagen, dass Home-Schooling eine Behelfslösung sein kann, um Zeit zu schaffen, dass die Barrieren in der Schule abgebaut werden können?
Stephanie: Als Behelfslösung, oder nachdem wir wissen, dass manche Regionen sehr Einkommensschwach sind, so dass Schulen ganz schwer barrierensensibel gestaltet werden können, auch mal länger oder auch ganz. Ganz, weil die autistischen Kinder würden teilweise an der Barrierelast tatsächlich zerbrechen, eine Geistige Behinderung dadurch entwickeln, eine sprachliche Behinderung entwickeln, eine körperliche Behinderung entwickeln. Und natürlich muss die Gesundheit an oberster Stelle stehen.
Das heißt also, wenn sich überhaupt niemand in der Lage sieht Barrieren abzubauen und das autistische Kind krank von der Barrierelast wird, nicht mehr lernen kann, dann halte ich es aus meiner persönlichen Sicht, aus der Erfahrung heraus, was international passiert, für eine gute Lösung. Ich weiß aber, dass das Deutsche Gesetz das anders sieht.
Lukas: Zum Abschluss habe ich jetzt noch ein paar Begriffe mitgebracht, die einem immer mal wieder begegnen, wenn man sich mit Autismus auseinandersetzt. Ich würde mich freuen, wenn die diese Begriffe in zwei bis drei Sätzen jeweils zu definieren und mir zu erklären was damit eigentlich genau gemeint ist.
Der 1. Begriff ist "Stimming", was ist das?
Stephanie: Stimming ist alles, was einen Selbst in irgendeiner Weise reguliert. Wenn ich jetzt hier sitzen würde mit dem Stuhl zu schaukeln z.B., während ich spreche, das wäre eine Form von Stimming, um mich besser konzentrieren zu können, dem Gespräch besser folgen zu können, mich wohl zu fühlen während des Sprechens. Oder es könnte sein, dass ich anfange mit der Kette zu spielen, oder mit Ringen. Es könnte auch sein, dass ich anfange irgend etwas ständig zu wiederholen, während ich nachdenke. Das sind alles Verhaltensweisen, die nur dazu dienen, mich selber zu regulieren. Deshalb heißt das Selbstregulations-Verhalten, weil es aufrecht erhält, dass ich das weiter tun kann, was ich gerade machen möchte, z.B. dem Gespräch folgen, lernen, antworten. Alle Autisten zeigen irgend eine Weise von Stimming.
Es ist leider in der Geschichte ganz viel Gruseliges zu Stimming passiert. Sie haben in der Vergangenheit teilweise autistische Kinder an Stühlen festgebunden, mit Seilen, um sie davon abzuhalten, dass sie manchmal mit den mit den Armen und Händen flattern (wie Vögel flattern) wenn sie aufgeregt sind. Oder sie haben sie in Ecken gestellt, um dadurch zu verhindern, dass sie mit dem Stuhl schaukeln (oder kippeln), obwohl das eigentlich Verhaltensweisen sind, die total wichtig sind, damit sich der Autist wohl fühlt, lernen kann, funktionieren kann. Wenn man von Funktionieren überhaupt sprechen möchte, aber in der Schule wird ja eine gewisse Leistungsbereitschaft auch erwartet. Das heißt Leistungsbereitschaft wird durch Stimming gefördert.
Lukas: Der nächste Begriff den ich mitgebracht habe ist der Overload.
Der 2. Begriff "Overload" was bedeutet das?
Stephanie: Der Overload ist im Grund, wenn eine Barrierelast kommt, irgendeine, z.B. es ist zu laut, zu wuselig, die Anforderungen sind zu chaotisch, die Mitmenschen haben gemobbt oder was auch immer, dann entsteht eine Überlastung. Meistens ist es dann so, dass die autistischen Kinder es versuchen mit Stimming zu regulieren. Zum Beispiel sieht man es, dass sie dann flattern oder mit dem Stuhl kippeln, sie anfangen nervös irgendwas zu machen, aufzustehen, zu hoppsen, zu hüpfen, Echolalie, immer die Worte wiederholen. Und der Overload ist dann dieser Zustand, wenn durch Stimming nicht mehr reguliert werden kann.
Das heißt es muss dann im Overload irgend etwas im Außen dann eigentlich passieren, damit diese Überlastung wieder aufhört. Zum Beispiel es muss eine chaotische Anforderung sortiert werden, es muss leiser werden, es muss die Umgebung gewechselt werden, um lernen zu können vielleicht wirklich Distanzunterricht eine Weile gewählt werden, damit der Overload aufhört, bei dem auch langsam das klar Denken aufhört. Und so wieder Lernbereitschaft entstehen kann.
Lukas: Es ist also so, dass es gerade in solchen Situationen besonders wichtig ist, dass Stimming nicht unterbrochen wird. Es ist also das Schlimmste was man machen kann, Stimming zu unterbrechen?
Stephanie: Ja, also wenn der Overload ist und es wird Stimming unterbrochen dann kommen wir zu den nächsten Begriffen.
Lukas: Ja, ich glaube es auch, dass das so ist. Die nächsten Begriffe die Du mir bitte erklären kannst sind, wie das aussieht, wie es dazu kommt und wie sich diese beiden Begriffe unterscheiden:
3. Begriff "Shutdown" und
4. Begriff "Meltdown"
Stephanie: Wenn nun also diese Barrierelast ist und das autistische Kind hat versucht irgend etwas dagegen zu machen, zum Beispiel indem es Stimming gezeigt hat, oder es hat versucht den Ort zu verlassen, oder es wollte zu Hause lernen, es wollte gar nicht in die Schule, oder was auch immer. Und dann sagt man jetzt: "Nein, Du musst jetzt in die Schule!" "Du stellst Dich jetzt aber gerade hin!" "Jetzt ist kein Stimming erlaubt!" "Die Mütze ist verboten und das Licht darf Dich jetzt auch nicht stören!" "Das Chaos musst Du aushalten!" Dann hat das zur Folge, dass das Kind irgendwann zusammenbricht.
Dann kann das Kind gar nichts mehr, weil das ganze Nervensystem so überlastet ist, dass dann der Notfallmechanismus eintritt: Überleben. Weil ab hier passieren dann auch sowas wie sogenannte Sprachstörungen, würde man dann diagnostizieren, das autistische Kind kann sich dann nicht mehr verbal richtig äußern, in einer Weise, die man noch verstehen kann. Meistens reden sie sogar noch irgendetwas. Aber es fehlt dann oft der Kontext, oder der Inhalt, etc, weil im Shutdown die Außenwahrnehmung nicht mehr richtig funktioniert. Man ist quasi nur noch innerlich als Autist mit der Lösung des Problems beschäftigt. Weil das ja überlebenswichtig ist. Und wenn das Außen dann noch irgendetwas sagt, dann nimmt man das vielleicht noch wahr, aber setzt das alles in den Kontext von "überleben". Was bedeutet das jetzt für meinen Überlebensmechanismus?
Zum Beispiel: ich möchte lernen. Ich habe hier also meine Aufgaben liegen. Es ist aber so, dass alle gleichzeitig auf mich einreden. Und so kann ich nicht lernen. Und ich habe schon oft gesagt: "seid bitte alle still", "Lasst mich in Ruhe konzentrieren", "Bitte lasst mich einfach meine Aufgabe machen". Und dann kommt jemand der sagt: "Du hast jetzt aber Zeitdruck! Du hast jetzt nur noch 2 Minuten, Du musst jetzt Deine Aufgabe jetzt fertig machen!" Dann wird das immer schlimmer. Und irgendwann kann ich gar nicht mehr verstehen, was überhaupt auf diesem Blatt steht. Und wenn dann die Leute weiter kommen mit "Uhrzeit" "Prüfung" "Notenschluss" "Zeugnis" "Verhaltenskodex" "Verweis" "Strafe" "Nachsitzen" dann werden die Sanktionen ja immer höher, irgendwann kann man gar nix mehr. Dann breche ich zusammen als autistischer Mensch und gehe in den Shutdown. Also das heißt ich kann dann auch wie eingestarrt herumsitzen und nur noch ja und nein sagen. Meistens kommen dann irgend welche auswendig gelernten Antworten. Immer ja oder nein, oder irgend etwas an Aussage, das Ruhe verschafft im Außen.
Oder es kommt der Meltdown, dass mein Inneres sagt "mir reichts jetzt". Man zerreißt das Blatt dabei vielleicht, weil man keinen Bock mehr darauf hat, man schubbst vielleicht alle Leute zur Seite und rennt einfach nur noch weg aus der Situation.
Es ist quasi der Shutdown der innere Fluchtmodus. Flucht oder Angriff sind beim Überlebensinstinkt die zwei Möglichkeiten. Wenn mir aber Flucht nicht möglich erscheint, dann erstarre ich. Oder Angriff, weil es eine lebensbedrohliche Situation erscheint. Lebensbedrohlich weil, es betrifft das vegetative Nervensystem, das Sprachzentrum, den Bewegungsapparat, die kognotive Gehirnfunktion, das heißt, das autistische Kind ist am Ende. Fertig.
Das heißt: Barriereabbau und Stimming (Anstelle dessen) wäre so einfach gewesen.
Lukas: Vielen Dank für all die spannenden Informationen! Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, dass wir jetzt miteinander sprechen konnten. Ich hoffe dass es auch für Sie, die das gerade lesen, ebenfalls spannend ist!
Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Spaß und Erfolg beim fortbilden und bei der Gestaltung einer barrierensensiblen Umgebung!
Stephanie: Viel Erfolg! 🍀🍄🐞🦄